Dienstag, 21. Juli 2015

Willkommen zurück auf meinem Blog!

Wieso zurück? Ich habe mal einen Blog zu den Themen "Gender", "Geschlecht" und "Geschlechtergerechtigkeit im Alltag" betrieben, es ist zugegebenermaßen etwas her (was sind schon 5 Jahre), aber nichts desto trotz habe ich mein Interesse nicht verloren. Ebenso wenig verloren haben die Themen an Brisanz und Aktualität.
Daher habe ich mich entschlossen, eine Neuauflage des Blogs zu machen und möchte euch meine Gedanken präsentieren. Zu meiner 2009 erschienenen Diplomarbeit habe ich mir erneut Gedanken gemacht. Hier kommen sie!

Viel Spaß beim Lesen, wünscht Natalie


Intersexualität, Travestie und Transsexualität im kulturellen Text –  Literatur, Film, Musik und Alltagsmedien zwischen den Geschlechtern und darüber hinaus

Ich hatte mich während des Studiums sehr dafür interessiert, wie sich theoretisch anscheinend leicht zu fassende Konstrukte wie Geschlecht, Geschlechtsidentität und Sexualität in der Literatur widerspiegeln und sich über die Jahrzehnte auch verändern. Ich bemerkte bald, sobald Menschen Literatur produzierten und konsumierten, gab es Figuren, die der heutigen heteronormativen Norm nicht entsprachen. Es scheint nur allzu menschlich zu sein: der Wunsch nach fließenden Grenzen, mehr Spielraum in den Geschlechterrollen, Verwaschung der Identität, Verwandlungen etc. Als Beispiel führe ich in Kapitel 4 die mythologische Figur des Sehers Teiresias an, welche in einer relativ großen Zahl antiker Werke erscheint.

Als sexualwissenschaftliche Theorien und Konzepte Ende des 19. Jahrhunderts herum entstanden, entstand gleichzeitig eine bipolare Einteilung und Wertung: plötzlich gab es eine “richtig” und eine “falsche” Sexualität und sexuelle Identität, eine “gesunde” und eine “ungesunde”, eine “zu duldende” und eine “zu korrigierende”.

Dann wächst interessanterweise die Zahl an autobiographischen Schriften von Menschen, die entweder mit beiden genitalen Merkmalen geboren wurden (Intersexualität), sich also zwischen den Geschlechtern befanden, oder von Menschen, die sich Zeit ihres Lebens fühlten, als seien sie im “falschen” Körper geboren worden. Dazu stelle ich Herculine Barbin vor, den bekanntesten Hermaphroditen des 19. Jahrhunderts, und seine berühmten Erinnerungen (Kapitel 1). Etwas zeitgenössischer wir des mit transsexuellen Autobiographien von Christine Jorgensen (1926 – 1989), April Ashley (* 1935) und Thomas Beatie (* 1974) in Kapitel 4.

Warum frage ich mich heute, fast 6 Jahre nach meiner akademischen Auseinandersetzung immer noch (oder schon wieder!?): Was bedeutet Geschlecht heute? Und was regt die Menschen so auf?

Ganz einfach: es vergeht keine Woche, wo ich in den Medien (ob Print, TV oder Online) über eine Geschichte stolpere, in der es darum geht, dass die konstruierten Geschlechterrollen “Mann” und “Frau” durcheinander gewirbelt werden. Musikvideos, Songtexte, Filme und Fotos bilden täglich den aktuellen kulturellen Text und erzählen gleichzeitig und fast nebenbei Geschlechter-Geschichten von Androgynie, Intersexualität, Travestie und Transsexualität.

Ich frage euch: Was erzählen aktuelle persönliche Phänomene wie Conchita Wurst und Caitlyn Jenner über uns als Gesellschaft?



Conchita Wurst ist die Kunstfigur des österreichischen Sängers Tom Neuwirth (* 1988), die 2014 mit “Rise Like a Phoenix” den 59. Eurovision Song Contest gewann - das viertbeste Ergebnis in der Geschichte des ESCs und nach dem Sieg von Udo Jürgens im Jahr 1966 der zweite Sieg Österreichs beim ESC. Seit 2011 tritt Neuwirth, der als Jugendlicher wegen seiner Homosexualität oft gehänselt wurde (“bullying”), als Conchita Wurst auf und bastelt auch eine fiktive Biographie rund um die Kunstfigur.

Conchita ist eine, die man nicht so schnell vergisst: trägt die Diva doch einen Vollbart. Österreich schreit auf – und die soll jetzt auch noch Österreich beim Songcontest vertreten? Was denkt Europa von Österreich, eine Frau mit Bart?

Die Diskussionen enden nicht, selbst als Conchita mit dem Sieg den Songcontest für das Jahr 2015 nach Wien holt. Was bedeutet der Bart nun?

Conchita sagt in einem Interview mit der österreichischen Tageszeitung KURIER am 17.09.2013, dass sie genau diese Reaktionen gezielt herausfordere, um die gesamtgesellschaftliche Diskussion anzufachen und etwas zu bewegen:

“Vor allem der Bart ist ein Mittel für mich, zu polarisieren, auf mich aufmerksam zu machen. Die Welt reagiert auf eine Frau mit Haaren im Gesicht. Was ich mir wünsche, wäre, dass sich die Leute ausgehend von meiner ungewöhnlichen Erscheinung Gedanken machen - über sexuelle Orientierung, aber genauso über das Anderssein an sich. Manchmal muss man den Menschen einfach und plakativ klarmachen, worum es geht.“

Und der Name „Wurst“ ist auch Programm:

„Im deutschsprachigen Raum war dieser Nachname für mich die einzige logische Wahl, denn: Am Ende des Tages ist es einfach wurst, wie man aussieht und woher man kommt, weil einzig und allein der Mensch zählt. Leider ist die Reaktion auf Neues und Anderes oft eher Angst bis Ablehnung.“

Wichtig ist für Tom Neuwirth festzuhalten, dass er nicht transsexuell ist, sondern mit seiner Kunstfigur Conchita Wurst eben Kunst mache. Die Abgrenzung von Travestie und Transsexualität ist in der Gesellschaft noch nicht so eindeutig. Conchitas Auftreten verwirrt die Menschen, weil sie Geschlechtsattribute vermischt und die Unterschiede zwischen den Geschlechtern verwischt.


Wo Conchita auftritt, polarisiert sie mit ihrem äußeren Erscheinungsbild, ihren Songtexten und ihren Reden. Conchita Wurst macht klar, was sie von den Anfeindungen hält:


Conchita wurde durch die Diskussion, die sie selbst inszeniert hatte, über die Grenzen Österreichs bekannt.

Was Conchita Wurst aka Tom Neuwirth innerhalb der letzten Jahre geschafft hat ist nicht nur eine immense Karriere aufgrund seines Gesangtalents, sondern hat auch gewisse gesellschaftspolitische Dimensionen. Es hat Österreich verändert, das traue ich mich zu attestieren. Auch Conchita Wurst hat ein Buch veröffentlich: “Ich, Conchita – Meine Geschichte. We are unstoppable” erschien im LangenMüller Verlag, 2015.

Kurz nach dem ESC 2015, bei dem Conchita Wurst als Vorjahresgewinnerin die aktuelle Show mit moderierte, kamen die nächsten Schlagzeilen um eine bemerkenswerte Frau in den Medien auf: Caitlyn Jenner.

Caitlyn – wer? Bekannt wurde Bruce Jenner als Weltklasse-Sportler in den 1970er Jahren, 1986 wurde er in die U.S. Olympic Hall of Fame aufgenommen. Bruce Jenner war dreimal verheiratet und hat sechs Kinder. Mit seiner letzten Ehefrau, Kris, und ihren Kindern ist Bruce in der Reality-Soap “Keeping up with the Kardashians” zu sehen und ist dem jüngeren TV-Publikum deshalb als Stiefvater von Kim Kardashian ein Begriff. Als 2014 die Ehe mit Kris geschieden wurde, häuften sich die Berichte um sein sich veränderndes Aussehen, denn Bruce wurde immer “weiblicher”. Im April 2015 gab Bruce Jenner bekannt, eine Transfrau zu sein und am 1. Juni 2015 ging Jenner in die Öffentlichkeit mit dem Cover-Foto des US-Magazins “Vanity Fair”. In sozialen Netzwerken wie Facebook, Twitter und Instagram ging die Nachricht mit dem Hashtag #CallMeCaitlyn rasant um die Welt.

Alleine dieser Tweet hatte fast 33.000 Retweets und wurde von mehr als 25.000 Menschen favorisiert.
Dieses Coming-out mit 65 Jahren beschwerte Caitlyn Jenner eine ungeheure weltweite Plattform in weniger als 24 Stunden. Mehr als 2 Millionen Menschen folgten ihr auf Twitter und sie bekam viel Zuspruch. Innerhalb der Trans-Community gab es jedoch auch kritischere Stimmen, Caitlyn hätte ihre Celebrity Power besser nutzen können, um anderen Trans-Menschen zu helfen. Denn Jenner sei jetzt eine reiche, weiße Frau (“wealthy white woman”) und ihr Auftritt, festgehalten durch die Star-Fotografin Annie Leibovitz könne nicht die Gesamtheit der Trans-Community darstellen. Daran sieht man, dass es auch innerhalb der Trans-Community keine Homogenität gibt.

Was für mich persönlich ganz wichtig ist in dieser Auseinandersetzung: Man muss vorsichtig mit Generalisierungen sein, wenn man beispielsweise von „den“ Transsexuellen spricht; wie jeder andere Mensch auch hat eine, ein Transsexuelle/r eine individuelle Geschichte und ist in einem zeitlichen sowie kulturellen Kontext verwurzelt. Ich, als sogenannte Biofrau oder Cisgender (nach Volkmar Sigusch, Begriff Zissexualität), schreibe auch aus meiner Geschichte heraus und selbst Sie als Leser/in dürfen Ihre Sozialisation, Ihre Herkunft und persönliche Geschichte nicht unterschätzen. Wir treten in Kontakt und kommunizieren, sind aber zu einem gewissen Grad so etwas wie kurzsichtig, können nicht das große Ganze des Diskurses fassen.

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