Mittwoch, 22. Juli 2015

Transsexuelle Autobiographien

Seit fast 80 Jahren werden Autobiographien von Transsexuellen veröffentlicht: Oft einfach nur um die Lebensgeschichte wiederzugeben, andere wiederum wollen sich erklären und manche möchten nichtbetroffenen Menschen dieses Thema näher bringen, somit die Gesellschaft sensibilisieren und für größere Akzeptanz sorgen, wie Christine Jorgensen festhält:
There is also the hope that a clear and honest delineation of my life may help lead to a greater understanding of boys and girls who grow up knowing they will not fit into pattern of life that is unexpected of them; of the men and women who struggle to adjust to sex roles unsuited to them; and the intrepid ones who, like myself, must take drastic steps to remedy what they find intolerable (Jorgensen, 2000, S. xvii, Preface).
Wenn wir davon ausgehen, dass frühe Autobiographien Transsexueller, beginnend in den 1930er Jahren, noch viel von Rechtfertigung und des Sich-selbst-Erklären-Müssens vor der Gesellschaft haben, sind aktuellere transsexuelle Autobiographien „primär die Geschichte einer geschlechtlichen Selbstverwirklichung“ (Runte). Grundsätzlich sind transsexuelle Autobiographien jedoch nicht nur von identitärem Interesse, sondern auch im Hinblick auf die herrschenden „sexualwissenschaftliche[n] und medizingeschichtliche[n] Begleitdiskurse“ (Runte). Anhand der Einschreibung in den transsexuellen Körper können wir das Geschlechterdenken und den Umgang mit dem Devianten nachvollziehen.
Zentrale Kollektivsymbole und Metaphern (Vgl. Runte.), die immer wieder von Transsexuellen verwendet werden, um ihr Bedürfnis nach der Geschlechtstransformation zu beschreiben, sind folgende:
 
  • Rätsel: einerseits die bedrückende Gewissheit, dass „etwas nicht stimmt“ aber andererseits nicht genau zu wissen und lokalisieren können, was es ist und worum es sich handelt.
  • Reise, Odyssee, Irrfahrt, Abenteuer, Grenzüberschreitung
  • Kampf-Semantik: gefangen sein, sich befreien, siegen
  • Geburt
  • Verwandlung
  • Ausbruch aus dem Gefängnis (des Körpers)
  • Den Körper der Seele anpassen: dies ist eine Aussage, die häufig vorkommt. Durch Hormone und Operationen kann endlich die lang ersehnte Einheit von „außen“ und „innen“ entstehen, die gesellschaftlich gefordert wird und bei Nichtvorhandensein Sanktionen setzt.

Chronologie der transsexuellen Autobiographie
Die autobiographischen Aufzeichnungen von Lili Elbe sind die Ersten ihrer Art. 1933 gab (unter dem Pseudonym Niels Hoyer) Ernst Ludwig Hathorn Jacobson ein Buch heraus, welches auf Lili Elbes Tagegucheinträgen, Briefen und Diktiertem basierte. Das Buch heißt „Man into Woman: An Authentic Record of a Change of Sex“. Die Betonung liegt hier auf der Authentizität, da ein Mann-zu-Frau-Geschlechtswechsel so unglaublich scheint. Lili Elbe lebte von 1882 bis 1931, hieß vor ihrer Operation Einar Wegener und war ein bedeutender dänischer Landschaftsmaler. 1930 ging Einar Wegener nach Deutschland, um sich einer Geschlechtsoperation zu unterziehen, wobei Magnus Hirschfeld sich mit dem Fall vertraut machte. Lili Elbe starb 1931 an den Folgen der Operationen. Es ist wahrscheinlich, dass sie sich einen Uterus implantieren lassen wollte, um Kinder bekommen zu können, woran sie verstarb.
Eine literarische Bearbeitung dieser Lebensgeschichte liegt von David Ebershoff vor, der im Jahr 2000 den Roman „The Danish Girl“ (dt. „Das dänische Mädchen“) veröffentlichte. Der Roman wurde verfilmt, Ende 2015 kommt er in die Kinos.

Roberta Cowell gilt als die erste Transsexuelle in England. 1921 als Robert geboren, führte er ein „männliches“ Leben: Im Zweiten Weltkrieg war Robert Flieger und heiratete. Er war sehr interessiert an Motoren und Geschwindigkeit und so eröffnete er eine Autoentwicklungsfirma. Nach seiner Scheidung war er depressiv und suchte Hilfe in einer Therapie. Mediziner_innen stellten weiters fest, dass Robert gewisse intersexuelle Züge und erstaunlich hohe Werte von weiblichen Hormonen in sich hatte, obwohl er rein äußerlich sehr männlich wirkte. Hier lag im Grunde ein Fall von Intersexualität vor. Als Cowell das hörte, war er zunächst entsetzt und verzweifelt und wollte seinem Leben ein Ende setzen. Doch dann entschied er sich dafür, sein Leben als Frau fortzusetzen. Nach Hormongaben und einer Kastration wurde 1951 an ihr auch die erste Vaginoplastik durchgeführt. Ihre Autobiographie „Roberta Cowells Story by Herself“ erschien 1954 und erregte großes mediales Echo.

Eine kurze chronologische Auflistung weiterer Autobiographien von Transsexuellen zeigt die unterschiedlichen persönlichen Herangehensweisen, wie das eigene transsexuelle Leben erzählt werden kann. Den Anfang macht Christine Jorgensen mit ihrer Autobiographie „Christine Jorgensen: A Personal Autobiography“ aus dem Jahr 1967, auf welche ich im Folgenden näher eingehen werde.

Jan Morris, eine britische Journalistin und Reiseschriftstellerin, veröffentlichte 1974 ihre autobiographischen Memoiren „Conundrum“. In „Conundrum“ behandelt Morris auch ihre Beziehung zu ihrer Ehefrau, die sie noch als Mann ehelichte und vier Kinder zeugte.

Mario Martino publizierte 1977 „Emergence: A Transsexual Autobiography“ (1977) und deutet bereits im Titel auf das notwendige Sichtbarwerden von transsexuellen Identitäten hin.

1978 publizierte Journalistin Nancy Hunt ihre Autobiographie „Mirror Image: the Odyssey of a Male-to-Female Transsexual“ und beschreibt mit der Metapher der Odyssee ihren schweren Weg zur Selbstfindung.

Ebenfalls die Metapher Odyssee im Titel trägt die Lebenserinnerung von April Ashley, „April Ashley´s Odyssey“, aus dem Jahr 1982. Auch dieses autobiographische Werk bespreche ich im Folgenden.

Die ehemalige professionelle Tennisspielerin und spätere Augenärztin Renée Richards veröffentlichte zwei Memoiren, erstens „Second Serve“ (1983) und zweitens „No Way Renee: The Second Half of My Notorious Life“ (2007). Ko-Autor bei beiden Büchern ist John Ames.

Caroline Cossey (auch bekannt als Tula) war Anfang der 1980er Jahre als Model tätig, wurde für den „Playboy“ abgelichtet und erhielt eine kleine Nebenrolle im James-Bond-Film „In tödlicher Mission“; danach wurde sie als Transfrau geoutet. Mit „I am a Woman“ (1982) und „My Story“ (1992) versucht Cossey sich und ihre Beweggründe zu erklären.
Coccinelle war mit ihrer geschlechtsanpassenden Operation im Jahr 1958 die erste europäische Transsexuelle, die medial diskutiert wurde. Das lag auch daran, dass sie als Show-Girl ein Sexsymbol ihrer Zeit und eine absolute Traumfrau war. 1987 veröffentlichte sie ihre Lebenserinnerungen, die ihren Namen tragen, „Coccinelle“.

Ebenfalls ein Show-Girl aus der Zeit von Coccinelle war Bambi, die bürgerlich Marie-Pier Ysser heißt. Sie studierte an der Sorbonne und wurde Literaturprofessorin. Der Roman „J'inventais ma vie“ ist autobiographisch und erschien 2003.
In den meisten Fällen von transsexuellen (Auto-)Biographien gibt es eine/n Ko-Autor_in, der/die im Journalismus tätig ist. Das Durchschnittsalter, gemessen am Publikationszeitpunkt, liegt zwischen 30 und 40 Jahren, das transsexuelle coming out findet meist um die Lebensmitte herum statt (Vgl. Runte). Transsexuelle Lebensgeschichten sind öffentliche Bekenntnisse, die, ähnlich wie die Erinnerungen der Intersexuellen Alexina Barbin, als „narrative Selbstentblößung – eine Art Produktion des Selbst durch die Beichte“ (Butler, 1991, S. 150) gelesen werden können.
Runte erklärt das Auftauchen transsexueller Wünsche kulturhistorisch mit dem „geschlechtlichen Paradigmenwechsel der Moderne“. Transsexuelle Menschen und ihre Erzählungen bewegen sich in einem spannenden Wechselspiel von Rollenprotest und Anpassung an die Norm um jeden Preis. Die Selbstdokumentation einer geschlechtlichen Transition kann viele Gründe haben, meist jedoch geht es darum, sich und seine Gründe der Gesellschaft begreifbar zu machen und der Regenbogenpresse den Boden für Spekulationen und produzierte Unwahrheiten zu entziehen.
 

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